Diese Ansicht des Celler Schlosses von ca. 1750 erscheint durchaus eigenartig. Sie zeigt nämlich nicht nur das ehemalige Residenzschloss in Celle, sondern auch die damals zum Schloss zugehörige Vorburg. Die Ansicht der Bauten wird jeweils von einem imaginären Ort über dem Schlossgraben aus wiedergegeben, was dazu führt, dass je nach Blattdrehung entweder das Schloss oder die Bauten der Vorburg auf dem Kopf stehen. Während es vom Schloss jedoch zahlreiche Ansichten gibt, haben sich von den Bauten der Vorburg nur wenige erhalten. Anstelle der Vorburg befindet sich heute der Schlossplatz. Fast keines der ehemaligen Vorburggebäude hat sich erhalten, und das Blatt hat daher einen hohen Quellenwert. Eine Legende benennt die Funktionen der dargestellten Bauten. Das Blatt wurde von Völker jun. (1720-1800) mit Pastellfarben und Seide erstellt und misst 94 auf 63 Zentimeter.
Celle ist ehemals die bedeutendste und auch älteste Residenz der Welfen gewesen. Die Stadt war ab 1378 der bevorzugte Residenzort und ohne Unterbrechung von 1433 bis 1705 Residenz. Als mit dem beginnenden 16. Jahrhundert die Ansprüche an einen landesherrlichen Hof und vor allem die Landesverwaltung wuchsen, wurden verschiedene Funktionsbereiche aus dem eigentlichen Residenzschloss ausgelagert. Sie kamen in die sogenannte Vorburg jenseits des Schlossgrabens. Dieser Bereich gehörte rechtlich nicht zur Stadt Celle, sondern ebenfalls zum Schloss bzw. der so genannten Burgvogtei. Er war durch Tore und Pforten an der Kanzleistraße und der Stechbahn von der Stadt Celle getrennt.
In der Vorburg befanden sich Funktionsgebäude wie eine Wäscherei, ein Back- und Brauhaus, die Hofschmiede, die Hofradmacherei sowie verschiedene Stallungen, Reithallen und Remisen. Ferner standen in der Vorburg Bauten für die Staatsverwaltung: die Kanzlei, das Justizamt, ein Gefängnis, das Haus des Kanzlers, die burgvogteiliche Amtsstube mit Landgerichtssaal, eine Schreiberei und die Münze mit der Wohnung des Münzmeisters. Für die Sicherheit des gesamten Schlossareals und nicht nur der Vorburg dienten neben den genannten Torbauten auch ein Wachthaus, eine Wächterwohnung und ein Pförtnerhaus.
Das Auslagern von Verwaltungs- und Funktionsbauten vor das eigentliche Schloss war im 16. und 17. Jahrhundert üblich. Es trennte den repräsentativen Bereich des Landesherrn im Schloss vom Bereich der alltäglichen Staatsverwaltung sowie den meist unansehnlichen Nebengebäuden. Da der Zugang in das Schloss zum Landesherrn höheren Sicherheitsbestimmungen unterlag als etwa zum Hofschmied, erleichterte sie auch den reibungslosen Ablauf der Amtsgeschäfte. Derartige Trennungen werden bis heute vorgenommen, wie man es etwa bei den Regierungsbauten in Berlin sehen kann. Ein frühes Vergleichsbeispiel aus Niedersachsen hat sich in Bückeburg erhalten, wo ab 1601 vor dem Schloss ein neuer Marktplatz angelegt wurde und zwischen diesen und das Schloss selbst Verwaltungs- und Festbauten errichtet wurden.
Auf der hier vorgestellten Ansicht erblickt man ganz links die Kanzleistraße und an dieser das Oberappellationsgericht für das Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg, das 1711 im Gebäude der Kanzlei begründet worden war. Das Oberappellationsgericht besteht bis heute als Oberlandesgericht weiter. Rechts der Straße folgt das zweigeschossige weiß verputzte Gebäude der Landschaft des Fürstentums Lüneburg. Hier befand sich vormals die Dienstwohnung des Braunschweig-Lüneburgischen Kanzlers. 1682 erhielt Geheimrat Gottlieb von Bernstorff das Gebäude zum Geschenk. 1730 gelangte es an die Landschaft des Fürstentums Lüneburg, die 1789 durch Kauf ein angrenzendes Haus hinzu erwarb. Heute gehört es der Ritterschaft des Fürstentums Lüneburg bzw. dem ritterschaftlichen Kreditinstitut. Das rechts anschließende kleine Gebäude ist heute verschwunden. Hier erhebt sich heute der Neubau des Kunstmuseums. Es folgen der so genannte Lange Stall und das Haus der Burgvogtei. Von dem runden Vorbau zwischen Stall und Vogtei führte ehemals ein Gang zur Herzogsloge in der Stadtkirche. Dieser Gang ermöglichte es dem Herzog, in die Kirche zu gelangen, ohne die Stadt Celle betreten zu müssen. Dies war keine Celler Besonderheit; derartige Gänge gab es häufig. An der Stelle von Langem Stall und Burgvogtei steht heute das Bomann-Museum.
Die die Stechbahn abschließenden Gebäude weiter rechts sind heute verschwunden – es gibt keine Trennung mehr zwischen Stechbahn und Schlossplatz. Gut zu erkennen ist der weite, noch heute erhaltene Platz der Stechbahn. Ebenfalls nicht erhalten haben sich die Gebäude der Schreiberei, der Münze sowie der Wohnung des Münzmeisters rechts der Stechbahn. Hier erhebt sich heute das Gebäude des ehemaligen Postamts. Auch das ehemals angrenzende Brauhaus ist heute verschwunden, hier steht ein Verwaltungsgebäude. Noch teilweise erhalten hat sich der ehemalige Reitstall von 1664 ganz rechts. Der eingeschossige Bau mit Satteldach und hohen Fenstern zeigt noch heute das Wappen Herzog Georg Wilhelms. Die Gebäude westlich des Schlosses, die auf der Ansicht im rechten Winkel zu den Bauten am heutigen Schlossplatz gekippt dargestellt sind, sind alle verschwunden. Es handelte sich um ein Stallgebäude, einen Kornboden und ein Reithaus. Noch weiter rechts sind Bauten gezeigt, die sich dort befanden, wo heute die Westcellertorstraße und der Thaerplatz gelegen sind. Dort stand unter anderem das Haus des Hoffischers, den man im Schlossgraben gerade bei der Arbeit sieht. Ebenfalls nicht erhalten sind mehrere Gebäude im Westen – links außerhalb der Darstellung. Hier befanden sich die u.a. die Hofschmiede, die Hofradmacherei, Schuppen und Ställe.
Abschließend sei noch auf das Celler Schloss eingegangen, das hier auf dem Kopf steht. Die ehemaligen Befestigungswälle des 16. Jahrhunderts sind noch vorhanden. Sie wurden bis in das 18. Jahrhundert modernisiert. Der Zugang zum Schloss erfolgte durch ein 1530 in der Mitte des Schlosswalls erbautes Torhaus. Es war mit reichem plastischem Schmuck ausgestattet, den man ebenfalls gut auf der Darstellung erkennt. Reste werden heute u.a. im Celler Schloss ausgestellt. Die Befestigungen wurden ab 1785 abgetragen, das Torhaus 1801 niedergelegt. Der ehemalige Schlossgraben wurde teilweise zugeschüttet und ist heute knapp fünf Meter schmaler.
Am Schloss selbst erkennt man vor dem zweiten Obergeschoss einen hölzernen vor die Fassade gelegten Gang sowie einen kleinen Vorbau am Kapellenturm. Beide gingen auf einen tiefgreifenden Schlossumbau unter Herzog Georg Wilhelm nach 1665 zurück. Die Räume über dem Gang nahmen seine Wohnräume auf. Im Turm befand sich sein Schlafzimmer, in dem kleinen Vorbau war ein heute verlorenes Kabinett gelegen. Der Gang ermöglichte es Dienern, in das Kabinett und das Schlafzimmer zu gelangen, ohne die Wohnräume des Herzogs betreten zu müssen. 1830 wurden Gang und Vorbau abgerissen.
Das hier vorgestellte Blatt gibt einen einzigartigen Überblick über das ehemalige Zentrum des Fürstentums Lüneburg. Auch wenn die Ansicht erst rund 50 Jahre nach dem Ende dieser ehemals bedeutendsten Residenz im heutigen Niedersachsen erstellt wurde, bildet sie doch genau all jene Bauten ab, die damals für eine funktionierende Staatsverwaltung notwendig waren.
Literatur:
Brigitte Streich: Celle als Residenz der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg, in: Stadt – Land – Schloss. Celle als Residenz. Begleitband zur Ausstellung, hrsg. von Brigitte Streich (Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte. Schriftenreihe des Stadtarchivs und des Bomann-Museums, 29). Bielefeld 2000, S. 57-86.
Ralf Busch, Heiko Laß, Norbert Steinau: Landesherrliche Selbstdarstellung und Hofkultur im Fürstentum Lüneburg, in: Als die Royals aus Hannover kamen. Reif für die Insel – Das Haus Braunschweig-Lüneburg auf dem Weg nach London. Celle/Dresden 2014, S. 148-156.
Heinrich Siebern (Bearb.): Die Kunstdenkmale der Stadt Celle (Kunstdenkmäler Niedersachsens, 36). Hannover 1937, S. 124-130.
Heiko Laß: Das Schloss in Celle (Burgen, Schlösser und Wehrbauten in Mitteleuropa, 29). Regensburg 2012.