In den Beständen der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek, in einer Mappe mit verschiedenen Plänen und Ansichten Hannovers aus dem späten 18. Jahrhundert, befindet sich unter der Signatur Mappe XIX, C, 122 auch ein Plan der Stadtmitte Hannovers mit Marktplatz (Am Markte), Marktkirche und Rathaus. Es handelt sich hierbei um eine kolorierte Tuschezeichnung aus dem Jahre 1787 im Maßstab ca. 1:750, Südwesten liegt dabei oben.
Auf den ersten Blick bietet sich dem Betrachter von heute ein gewohntes Bild mit den beiden wichtigsten öffentlichen Gebäuden im historischen Stadtzentrum von Hannover und den umliegenden Straßen und Plätzen. Ein zweiter Blick offenbart jedoch Details, die zu einer näheren Betrachtung einladen: Da ist zum einen ein Maßstabsraster am unteren Ende des Blattes mit dem alten Längenmaß Rute. Dann werden die Straßen von vielen Linien, der Darstellung von Wasserleitungen, durchzogen. Überhaupt scheint der generelle Zweck dieses Planes eine Übersicht über die Wasserleitungen zu sein, die von einer zentralen Station, einem Pump- oder Hebewerk, einer sog. „Kunst“, am Rathaus ausgehen und unter den Straßen verlegt wurden mit Aufführung einzelner Brunnen/Schöpfstellen (vermutlich die kleinen Vierecke im Leitungsnetz). Neben der großen Wasserkunst an der Leine scheint es also noch mehrere kleinere Künste in der Stadt gegeben zu haben. Eine weitere Auffälligkeit stellt die Färbung der Gebäude dar: öffentliche Gebäude sind dunkelrosa gefärbt, Privathäuser hellrosa. Und spätestens hier fallen dann doch immer mehr die z.T. gravierenden Unterschiede zur heutigen Situation auf, denn einige der öffentlichen Gebäude, wie z.B. die Marktwache, die Waage und die Hohe Schule, gibt es nicht mehr. Und auch die Straßen- und Platzstruktur hat sich verändert.
Doch zunächst eine Beschreibung der noch weitgehend mittelalterlichen Situation im Stadtzentrum:
- Das Rathaus (heute Altes Rathaus) war damals Bestandteil eines Häuserblocks zwischen zwei Hauptachsen (Köbelingerstraße und Marktstraße) und präsentierte sich noch in seiner mittelalterlichen, gewachsenen Gestalt.
- Die Marktkirche war dicht von Gebäuden umgeben: an der Südseite des Turmes war das alte Totengräberhaus angebaut, an der Nordseite der Kirche noch die Annenkapelle und die Sakristei, gegenüber befand sich die Hohe Schule, aus der später das Ratsgymnasium hervorging, und das alte Pfarrhaus, die sog. Wedeme. An der Südseite der Kirche trennte eine Mauer die Bereiche von Kirchhof und Marktplatz und damit sinnbildlich den geistlichen vom weltlichen Bezirk. An die Mauer angebaut war das Gebäude der Marktwache. Die Nordostseite der Kirche war durch einen Baublock von der Schmiedestraße getrennt.
- Die Schmiedestraße selbst verbreiterte sich von Norden kommend zur Kirche hin platzartig. Dort stand die Waage. Auch dieser Bereich wurde wohl für den Markt genutzt. Es hat also nicht nur einen zentralen Marktplatz gegeben, sondern mehrere, z.B. den heute noch existierenden Holzmarkt.
- Die Häuserblöcke selbst sind generell sehr dicht bebaut mit vielen Neben- und Hintergebäuden und kleinen Höfen. Einen Garten besitzt nur das Pfarrhaus der Marktkirche.
- Es existiert bereits ein ausgebautes Leitungsnetz zur Wasserversorgung mit zahlreichen öffentlichen Schöpfstellen. Privatanschlüsse scheint es allerdings noch nicht gegeben zu haben.
Gravierende Veränderungen setzten dann ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ein, als sich das alte Zentrum von Hannover zu wandeln begann:
- Einen der schwerwiegendsten Eingriffe in das Stadtgefüge stellte der Durchbruch der Karmarschstraße ab 1879 dar. Dadurch war das Rathaus nun freistehend und wurde mit neuen Flügeln im Stil des Historismus zu einem selbständigen Baublock ergänzt. Die mittelalterlichen Bauteile wurden aufwändig restauriert. Allerdings verlor das Rathaus dabei auch seine Funktion als weltliches Zentrum, denn die Stadtverwaltung zog aus Platzmangel 1863 ins Wangenheimpalais um. Seitdem ist es das Alte Rathaus und dient kulturellen Zwecken.
- Im Gegensatz dazu behielt die Marktkirche ihre Stellung und Funktion als Hauptkirche der Stadt und damit als geistliches Zentrum. Aber auch an ihr gingen die Veränderungen des 19. Jahrhunderts nicht spurlos vorüber. Die Kirche wurde freigelegt und der Baukörper vereinheitlicht durch den Abbruch der Marktgebäude (Wache, Waage), des Totengräberhauses, der angebauten Kapellen und der Kirchhofmauer. Der Häuserblock auf der Nordseite der Kirche mit Hoher Schule und Pfarrhaus wurde nahezu vollständig abgerissen und verkleinert und begradigt neu errichtet, der Block auf der Nordostseite zur Schmiedestraße sogar ersatzlos abgerissen. Dadurch erst wurde der Durchblick von der Schmiedestraße auf das Chorhaupt der Kirche und von der Kramerstraße auf den Turm möglich. Auch das Westportal wurde erst im 19. Jh. vollendet und als Hauptportal der Kirche ausgebaut. All diese Arbeiten waren überhaupt typisch für das 19. Jahrhundert, das mit der Freilegung von bedeutenden Bauwerken diese als Geschichtsdenkmal inszenieren wollte.
- Der Marktplatz ist nun ein einheitlicher Platz, es gibt keine Trennung durch die Kirchhofmauer mehr in ein geistliches und weltliches Areal.
- Die Köbelingerstraße, einst eine der Hauptachsen der Altstadt, wurde durch die Karmarschstraße unterbrochen bzw. gekreuzt. Zusammen mit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg führte dies dazu, dass die Köbelingerstraße heute im Stadtbild kaum noch wahrnehmbar bzw. fast verschwunden ist.
- Überhaupt wurden die Straßen und Blockränder begradigt. So wurden u.a. Durchblicke und Sichtachsen geschaffen und wichtige Baudenkmäler freigelegt (s. Marktkirche). Die Häuserblöcke selbst wurden dazu häufig auch von innen entkernt.
- Bei Abbrüchen wurden die ursprünglichen Wohnhäuser meistens durch Geschäftshäuser ersetzt. Durch diesen Prozess der sog. Citybildung wandelte sich das Stadtzentrum mehr und mehr zu einem reinen Geschäfts- und Verwaltungszentrum, die alte Durchmischung von Arbeiten und Wohnen ging verloren.
Im Ganzen ist es spannend zu sehen, dass sehr große Veränderungen in diesem Bereich im Zentrum Hannovers im Stadtgrundriss bereits im 19. Jahrhundert erfolgten und nicht erst allein die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges und der Wiederaufbau zum heutigen Zustand geführt haben. Trotzdem sind die beiden wichtigsten Bauwerke und nahezu alle Straßen und Plätze, wenn auch mit Veränderung, bis heute vorhanden. Eine Ausnahme stellt die nicht mehr existierende Bullenstraße dar (Verlust durch den Wiederaufbau?). Dafür wurde östlich der Marktkirche nach dem Krieg durch Stadtbaurat Hillebrecht die neue Grupenstraße angelegt.
Die Karte ist ein sehr schönes Anschauungsstück, um deutlich zu machen, wie sehr sich Hannover seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verändert hat. Zudem lädt die nähere Betrachtung auch ein, sich immer wieder mit der Lokalgeschichte zu befassen.
Die alte Karte wurde für das Chronoscope World auf einen aktuellen Stadtplan eingemessen und kann per Zoom und Transparenz-Slider studiert werden: https://mprove.de/chrono?q=52.37153,9.73549&z=17.44&m=LH10063365X&o=0.9&r=-126