Die Küste in Niedersachsen zwischen Ems und Elbe wurde in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf Land- und Seekarten meistens als eine eintönige Linie von Westen nach Osten mit vorgelagerten Inseln dargestellt. Erst im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts wurden richtige Seekarten entworfen und gedruckt.
Die ersten Seekarten der südlichen Nordseeküste
Die älteste Seekarte der gesamten ostfriesischen Küste erschien 1584 in Lucas Janszoon Waghenaers [1533-1593] Spieghel der Zeevaert, einem Segelhandbuch, das für die Praxis des Seemanns bestimmt war und vom ersten Erscheinen an viel Aufmerksamkeit erhielt. Neben grundlegenden Informationen zur Navigation auf See enthielt dieses Buch eine systematische Sammlung von Seekarten und Segelanweisungen, die einem Seefahrer alle Informationen bot, die nötig waren, um an den europäischen Küsten sicher entlang zu fahren.
Damit die vom Meer kommenden Seeleute besser den Weg zur Küste und zu den Häfen fanden, war die Karte der ostfriesischen Küste gesüdet. Aus früheren Segelanweisungen, den sogenannten Rutters, hatte Waghenaer die Seitenansichten (Vertoonungen) der Inseln und markanter Küstenabschnitte übernommen und in die Karte eingefügt. Besonders wichtig für die Kapitäne waren die neuesten Tiefenangaben der Fahrrinnen, die auf der Karte durch Prikken bzw. Baken gekennzeichnet sind. Die geographische Darstellung des Landesinneren war unwichtig und wurde nur dann aufgenommen, wenn Burgen oder Kirchtürme als Anpeilungsobjekte dienen konnten.
Waghenaers Spieghel erschien in mehreren Auflagen in niederländischer, deutscher, lateinischer, französischer und englischer Sprache.
Viele Schiffer allerdings konnten mit den neu entworfenen Seekarten nichts anfangen und verlangten die althergebrachte Art der Informationen. So brachte Waghenaer 1592 den Thresoor der Zeevaert im praktischen Querformat heraus. Die schriftlichen Segelanweisungen wurden ausführlicher und die Seitenansichten der Küsten wurden in den Text eingearbeitet. Durch den Gebrauch auf See überlebten nur wenige Exemplare. Noch weniger Exemplare sind von Waghenaers Enchuyser Zeecaertboek erhalten, in dem sich nur noch zwei kleine Seekarten seiner heimatlichen Gegend befinden, ansonsten verthoninghe vande Lande naer haer gedaente Figuerlijcken getekent, wie es im Buchtitel heißt. Aus heutiger Sicht war dies ein Rückschritt, die Nachfrage nach diesem Büchlein rechtfertigte aber die Herausgabe.
Erst der Verleger Willem Janszoon Blaeu [1571-1638] verzichtete bei seinen Seekarten auf die Seitenansichten von Inseln und Küste. Dafür gab er in kleinen Textkartuschen die Legenden an, wie man mit Hilfe von Buchstaben die Sandbänke finden konnte, die in den damaligen Segelanweisungen genannt wurden. Außerdem wurden die Karten von ausführlichen Texten und auch Seitenansichten im Text begleitet, so dass der konservative Steuermann auf diese Informationen zurückgreifen konnte.
Um die Jahrhundertwende ließ sich Willem Janszoon, der sich später Blaeu nannte, in Amsterdam nieder. Er hatte seine astronomischen und navigatorischen Kenntnisse u.a. bei dem dänischen Astronomen Tycho Brahe vertieft und wurde ab 1604 zu einem der bekanntesten Verleger von Landkarten, Atlanten, Globen, Segelhandbüchern und Seekarten. 1608 publizierte er Het Licht der Zeevaert mit 42 Karten im Oblong-Format. Nur wenige der Seekarten, die übrigens nur in Ausnahmefällen koloriert sind, überlebten. Das Buch wurde so berühmt, dass sein wichtigster Konkurrent der nächsten Jahrzehnte, Joannes Janssonius [1588-1664], das Werk kopierte und ebenso den Reedern und Kaufleuten anbot.
Seekarten oder doch nur Landkarten eines wichtigen Seeweges entlang der heutigen niedersächsischen Küste?
Johannes Janssonius arbeitete eng mit Hendrik Hondius [1573-1650] zusammen, beide führten den Mercatoratlas fort, dessen Druckplatten sein Vater Jodocus Hondius erworben und nach Amsterdam gebracht hatte.
Ab 1634 erschien dann die folgende Karte der südlichen Nordseeküste in den verschiedenen Ausgaben des Verlages Janssonius (Abb. 05). Es handelt sich um eine zweigeteilte Karte. Der obere Teil der Karte zeigt die holländische und westfriesische Küste mit den Inseln, Amsterdam und der Zuiderzee. Die untere Karte zeigt die Küste vom Dollart bis zur Halbinsel Eiderstedt mit den ostfriesischen Inseln und der Elbmündung. Ergänzt wird die kartografische Darstellung der Küste durch eine Insetkarte der Unterelbe mit Hamburg und durch eine schöne Titelkartusche.
Vom Titel her vermutet man eine Seekarte, schaut man die Karte im Bereich der Zufahrten zu den Häfen an, muss man aber feststellen, dass die sparsame Kennzeichnung der Fahrwasser mit Tonnen und Angaben von Tiefen nicht für ein gefahrloses Erreichen der wichtigen Häfen ausreichte. Als Übersichtsdarstellung für Reeder, Kaufleute und andere interessierte Leser diente sie zur Hervorhebung eines wichtigen Handelsweges.
Zeitgleich erschien diese Karte auch mit dem Impressum von Hendrik Hondius. Die Druckplatte wanderte von Janssonius zu weiteren Verlegern, so dass dieses Kartenblatt mit unveränderter geographischer Darstellung, aber veränderter Titelkartusche, bis in die Anfangszeit des 18. Jahrhunderts verkauft wurde. Später wurde ein Gitternetz über die Karte gelegt, um den Eindruck zu verstärken, dass es sich um eine Seekarte handelt. Die Kartusche mit dem Kartentitel wurde erneuert, aber das Kartenbild blieb auch nach Jahrzehnten unverändert.
Niederländische Verleger bieten immer mehr Seekarten und Seeatlanten an
Im Laufe des 17. Jahrhunderts spezialisierten sich besonders niederländische Verlage wie Colom, Doncker, Goos, Lootsmann und schließlich Johannes van Keulen [1654-1715] auf die Produktion von Seekarten, Segelhandbüchern und Seeatlanten. Die Nachfrage war riesig, was allerdings dazu führte, dass die Verleger es zeitlich nicht mehr schafften, die Karten auf den neuesten Stand zu bringen. Bei den sich durch wandernde Sandbänke verändernden Flussmündungen konnte die Benutzung einer veralteten Karte daher zu schweren Schiffsunglücken führen.
Eine dekorative Karte aus dem berühmten Amsterdamer Verlagshaus van Keulen
Die Verlegerfamilie van Keulen produzierte in vielen Auflagen Karten und Atlanten. Die Tatsache, dass diese Karten oft unverändert blieben zeigt, dass es den Verlagshäusern mehr um den Profit als um eine Versorgung der Schiffer mit hochwertigen Karten ging.
Eine eindrucksvolle Karte aus dem Verlagsprogramm ist die Paskarte, die den Schifffahrtsweg von der Zuydersee bis zur Elbmündung zeigt. Sie erschien zuerst im Atlas De groote nieuwe vermeerderde Zee-Atlas ofte Water-Werelt im Jahr 1681. Die Landesbibliothek Oldenburg besitzt ein Exemplar, das etwa hundert Jahre später von derselben Druckplatte hergestellt wurde. Die Kolorierung überdeckt hier teilweise den flauen Abdruck und sollte sicher einen Sammler als Käufer anlocken, denn an Bord eines Schiffes wurden in der Regel nur unkolorierte Seekarten benutzt.
Kaperei erzwingt sichere Convoy-Fahrten im Wattenmeer und vor den Inseln
Diese und die folgende Karte können in Zusammenhang gebracht werden mit zunehmender Piraterie an der friesischen Küste zwischen Texel und Wangerooge. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den europäischen Großmächten seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis weit in das 18. Jahrhundert hinein führten dazu, dass die Kaperei, besonders von Dünkircher Kapern, in der südlichen Nordsee stark zunahm. Um den Güteraustausch zwischen den Niederlanden und den Häfen an Ems, Jade, Weser, Elbe und Eider aufrechtzuerhalten, sah sich besonders die friesische Admiralität in Harlingen genötigt, den Weg über die Watten bzw. dicht unter den Inseln mit Convoy-Schiffen zu sichern. Kleine über die Watten fahrende Convoyer hatten 10-12 Kanonen an Bord, die „Buiten-Convoyers“, die mit etwa 22 Kanonen bestückt waren, begleiteten die größeren Schiffe vorwiegend entlang der friesischen Inselkette. Für diesen wichtigen Wasserweg von Texel über Emden nach Hamburg und Husum brauchte man eine zuverlässige Beschreibung in Wort und Bild. Dem Seekapitän Mathurin Guitet der friesischen Admiralität zu Harlingen kommt das Verdienst zu, durch seine Wad- en Buitenkaart sowie einen 12 Seiten erläuternden Text diese Aufgabe gemeistert zu haben. Karte und Text erschienen zwischen 1708 und 1710 beim Verleger Joannes Loots in Amsterdam. Loots war durch die Herausgabe eines Navigationshandbuches im Jahr 1702 unter dem Titel Schat-kamer ofte konst der stier-lieden berühmt geworden. Dieses Buch von Klaas de Vries wurde für viele Jahrzehnte das Lehrbuch für Seefahrer, nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in Norddeutschland.
Die Karte tauchte mehrere Jahrzehnte später in einer überarbeiteten und ergänzten Fassung in der Zee-Fakkel des Verlags van Keulen auf und wurde – längst überholt und unbrauchbar geworden – noch bis tief in das 19. Jahrhundert hinein gutgläubigen Seeleuten angeboten.
Französische Besatzung Norddeutschlands führt dazu, dass Seekarten nach wissenschaftlichen
Methoden hergestellt werden
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren auch die Gebiete von Oldenburg und Ostfriesland wissenschaftlich vermessen worden. Auf dieser Grundlage konnten dann die Franzosen während ihrer Herrschaft über Norddeutschland Küsten, Inseln und Flussmündungen kartieren. So entstanden u.a. die eindrucksvollen Karten der Ems- und Jademündung.
Diese Karten wurden unter der Leitung eines der bedeutendsten Hydrographen Europas, Charles-François Beautemps-Beaupré [1766-1854], entwickelt. Für die Nordsee waren es die Blätter „Carte de l´Elbe“, „Plan de la Jahde et de l´embouchure du Weser“ sowie das Blatt der Emsmündung. Beautemps-Beaupré ging nach den in der französischen Marine seit langem bewährten und von ihm selbst weiter ausgebauten Arbeitsmethoden vor. Zunächst verschaffte er sich sichere geodätische Grundlagen vermittels astronomischer Ortsbestimmungen und bereits entwickelter Dreiecksnetze des französischen Ingenieur-Offiziers Epailly und des niederländischen Generals Krayenhoff, die beide ihre Dreiecksketten bis Groningen, Jever, Helgoland, Bremen und Hamburg vorgetrieben hatten. Dann ließ er die eigentlichen hydrographischen Arbeiten von Schaluppen und Booten aus unter Verwendung von Spiegelsextanten, Uhren, Loten und Peilstangen durchführen. Entstanden sind beeindruckende Karten, bei denen ein Gewimmel von Punkten auffällt – alles Messpunkte der Fahrwassergebiete.
Erst viele Jahrzehnte später begann eine Kartierung der deutschen Küste zwischen Ems und Elbe durch amtliche deutsche Stellen. Es gab zwar schon vereinzelte Karten, herausgegeben von den Kaufmannsvereinigungen in Hamburg und Bremen oder von Lotsen oder Navigationslehrern, aber erst die Gründung der preußischen Flottenbasis Wilhelmshaven (1854) führte dazu, dass im Auftrag der Preußischen Admiralität trigonometrische Vermessungsaufgaben durchgeführt wurden, die zu modernen Seekarten führten. Leiter der hydrographischen Untersuchungen war Kapitän-Lieutnant H. Koehler. Als Ergebnis wurde der See-Atlas der Jade/Weser und Elbe-Mündungen veröffentlicht, der aus 3 „Spezialkarten“, einer Übersichtskarte und einer kurzen Segelanweisung als Beiheft bestand.
Endlich sind auch „Niedersachsen“ an der Herstellung einer Karte der
niedersächsischen Nordseeküste beteiligt!
Ab 1861 vereinte das ins Leben gerufene „Hydrographische Bureau“ des Preußischen Marineministeriums alle Aufgaben, die das Seekartenwesen betreffen. Daher hatte die 1866 von der Generaldirektion des Wasserbaues zu Hannover herausgegebene „Karte der Küste der Nordsee“ nur ein kurzes Leben, was sich auch darin zeigt, dass nur wenige Exemplare der Karten und des dazugehörigen Erläuterungsheftes erhalten geblieben sind.
Wir erkennen auf dieser Karte die Kurse der Peilschiffe an den angegebenen Lotungstiefen in Faden (ca. 180cm). Außerdem wurden Angaben über die Beschaffenheit des Meeresgrundes gemacht, wie z.B. „ feiner grauer Sand mit schwarzen Sprenkeln und Muscheln“. Auch diese Angaben sollten helfen, den Standort auf See zu bestimmen. In den „Erläuterungen“ zur Karte werden u.a. in einer Tabelle die Winkel angegeben, unter denen man z.B. von bestimmten Punkten aus markante Landmarken wie Leuchttürme, Kirchen, Baken oder die Saline von Wangeroog(e) anpeilen konnte.
Die Deutsche Regierung übernimmt die Verantwortung für die Herstellung von Seekarten
Kurz nach der Gründung des Deutschen Reiches wurde beschlossen, die gesamten Küsten völlig neu aufzunehmen. Diese Arbeiten wurden 1884 beendet. Damit lagen erstmalig von allen Küstenabschnitten einheitlich entwickelte Seekarten deutscher Herkunft vor.
Dieses von unterschiedlichen Graustufen geprägte Kartenbild blieb für die nächsten Jahrzehnte typisch für die Seekarten, die vom Reichs-Marine-Amt in Berlin und später vom Deutschen Hydrographischen Institut in Hamburg herausgegeben wurden. Mit der Wiedervereinigung 1990 wurden die Aufgaben des DHI gemäß Einigungsvertrag mit den Aufgaben des Seehydrographischen Dienstes der DDR (SHD) zusammengelegt und künftig vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) übernommen.
Die modernen Seekarten sind mehrfarbig, als gedruckte Version oder als elektronische Seekarte beim BSH erhältlich. Sie enthalten viel mehr Informationen und sind vom Laien nur nach einiger Übung zu lesen.
Die letzte Karte zeigt uns die Deutsche Bucht im Mündungsbereich von Jade, Weser und Elbe. Die wichtigsten Schifffahrtswege liegen heute aufgrund der Schiffsgrößen weit weg vom Wattenmeer und auch in einem großen Abstand von den Stränden der Inseln. Die Karte enthält viel mehr Regeln und Vorschriften als frühere Seekarten. Vorgeschriebene Fahrwege, Gebiete mit Windkraftanlagen, militärische Sicherheitsbereiche und Umweltzonen müssen beachtet werden.
Auch diese Karten besitzen eine besondere Ästhetik, für einen Blickfang im Wohnzimmer würde ich aber immer noch eine Waghenaer-Karte aus dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts bevorzugen.
Literatur zum Thema:
Arend W. Lang: Die Seekarte der Watt- und Außenfahrt des Mathurin Guitet (1708-1710). Erläuterungen zur Lichtdruckausgabe. Juist: die Bake, 1961
Arend W. Lang: Seekarten der südlichen Nord- und Ostsee. Ihre Entwicklung von den Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Hamburg: Dt. Hydrograph. Inst., 1968
Michael Recke: Seekarten der Nord- und Ostsee. Zetel: Komregis, 2008
Günter Schilder: Early Dutch maritime cartography. The North Holland school of cartography (c.1580-c.1620). Leiden: Brill, 2017