Amt Neuhaus

Das Amt Neuhaus ist eine Gemeinde im nordöstlichen Niedersachsen und gehört seit dem 1. Oktober 1993 zum Landkreis Lüneburg. Sie ist die einzige niedersächsische Gemeinde, die östlich der Elbe liegt, welche ansonsten die Grenze zu den benachbarten Bundesländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Schleswig-Holstein bildet. Amt Neuhaus stellt in der jüngeren niedersächsischen Geschichte eine Besonderheit dar, denn es ist Gegenstand der letzten Änderung der politischen Karte des Bundeslandes. Insofern wird die Wiedereingliederung des Amtes oft auch als Pendant zur Wiedervereinigung auf Bundesebene gesehen.

Bis 1945

Die Region um das heutige Amt Neuhaus wurde während der Ostkolonisationen zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert nach und nach erschlossen. Seit dem 13. Jahrhundert gehörte es zunächst zum Herzogtum Sachsen-Lauenburg und erlebte seine Hochzeit zwischen 1581 und 1689, als Neuhaus die Nebenresidenz der Herzöge bildete. Der Tod des letzten Herzoges Julius Franz führte 1689 zu einer vierjährigen Auseinandersetzung um den Lauenburger Teil des Herzogtums. Anspruch erhoben das damals dänisch regierte Holstein und das Fürstentum Calenberg, dem 1692 das Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg folgte. Im Hamburger Vergleich von 1693 wurde zugunsten Braunschweig-Lüneburgs entschieden, das im Vorjahr zum Kurfürstentum erhoben worden war. Fortan blieb das Amt Neuhaus, mit kurzer Unterbrechung im Rahmen der napoleonischen Kriege, Teil dessen und des ab 1815 nachfolgenden Königreichs Hannover. Nach der Niederlage Hannovers gegen Preußen 1866 wurde es als Provinz in den preußischen Staat eingegliedert. Bis 1885 verwalteten sich die Ämter noch überwiegend selbst. Erst Anfang April 1885 wurden die Land- und Stadtkreise geschaffen und das Amt Neuhaus mit dem Amt Bleckede zum Kreis Bleckede vereinigt. 1932 folgte die Überführung in den Kreis Lüneburg.  Die lange Zugehörigkeitsgeschichte zu Königreich und Provinz Hannover, die damit einhergehende Lage der zuständigen Verwaltungsinstitutionen, Märkte etc. in den großen Städten Lüneburg und Hannover und nicht zuletzt auch Hamburg mit seinem großen Überseehafen nahmen maßgeblich Einfluss auf die starke linkselbische Orientierung der Menschen im Amt Neuhaus. Daran konnte auch die Elbe als vermeintlich trennende natürliche Grenze nichts ändern. Stattdessen wurde die beschriebene Orientierung durch den Bau von Brücken im späten 19. Jh. weiter unterstützt.

Ducatus Luneburgici in suas Præfecturas et Vogteyas ad Statum recentissimum divisi Tabula Geographica, Ausschnitt, Mappe XIX, E, 1, Lizenz: PD

Kriegsende und Teilung

Bis 1945 war das ostelbische Amt Neuhaus gemeinsam mit den westelbischen Gebieten verwaltet worden. Dies änderte sich nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. Anfang Mai 1945, also wenige Tage vor Kriegsende, besetzte die amerikanische Armee das Amt, ohne viel Widerstand zu erfahren. Wie die übrige Provinz Hannover gehörte es zunächst noch zur britischen Besatzungszone. In der am 5. Juni 1945 veröffentlichten „Berliner Erklärung“ wurden auch die Grenzen der zukünftig vier Besatzungszonen eindeutig festgelegt. Hierin wurde die Elbe als natürliche Grenze zwischen der sowjetischen und britischen Zone bestimmt und in der Folge zogen sich die britischen Truppen bis zum 1. Juli 1945 auf das linkselbische Ufer zurück. Verwaltungstechnisch gehörten das Amt Neuhaus und rechtselbisch gelegene Teile des Amtes Bleckede nun zum mecklenburgischen Kreis Hagenow. Die linkselbische mecklenburgische Gemeinde Kaltenhof wurde dagegen dem Kreis Dannenberg zugeschlagen. Die Übergabe an die Verwaltung der sowjetischen Besatzungszone überraschte und verunsicherte die Bevölkerung, war doch zunächst versichert worden, dass das Gebiet britisch besetzt bleiben sollte. Dass die Pantonbrücken bereits durch die Amerikaner zurückgebaut worden waren und der ohnehin stark reglementierte Fährbetrieb Ende Juni eingestellt wurde, erschwerte eine Flucht vor der neuen und, dank jahrelanger Kriegspropaganda und Fluchtgeschichten, gefürchteten Besatzungsmacht zusehends. So verblieben letztlich viele Alteingesessene in ihrer Heimat, wohingegen Menschen, die bereits vor der sowjetischen Armee aus den ehemaligen Ostgebieten ins Amt geflohen waren, trotz wachsender Widerstände versuchten, weiter in den Westen zu gelangen.     

Wie auch im übrigen innerdeutschen Grenzgebiet wurde auch im Amt Neuhaus der Grenzübergang schrittweise erschwert. Zwischen 1952 und 1961 wurden Grenzsicherung und Überwachung durch das Ministerium für Staatssicherheit sukzessiv ausgeweitet. Zusätzlich wurden „Grenzgänger, sogenannte unzuverlässige Personen, Regimekritiker, Großbauern und Unangepasste“ (Mägde: Grenzerfahrung, 2021, S.209) umgesiedelt, was die sozialen Strukturen der Region untergrub. Neuansiedlungen und die wachsende Zahl inoffizieller Stasimitarbeiter taten ihr Übriges, säten zusehends Misstrauen innerhalb der Bevölkerung und ließen Familienbünde umso wichtiger erscheinen. Spätestens nach der Fertigstellung des 3,20 m hohen Zaunes am rechten Elbufer in den 70er Jahren war ein inoffizieller Grenzübergang auch im Amt Neuhaus beinahe unmöglich.

Der Alltag veränderte sich stark, denn die Unüberwindbarkeit der Grenze erforderte es, sich zusehends mit den neuen Gegebenheiten arrangieren zu müssen. So zogen viele notgedrungen eine Mitgliedschaft in den Blockparteien oder gar der Sozialdemokratischen Einheitspartei Deutschlands (SED) dem drohenden Verlust von Eigentum und Selbstverständnis vor. Wesentlich wirkte sich die Umwandlung der, die Region prägenden, landwirtschaftlichen Betriebe in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPGs) auf das Amt aus. Zum Schutz der regionalen Integrität bemühte man sich allerdings, die Führungspositionen mit Ortsansässigen zu besetzen, um eine von oben diktierte Stellenbesetzung mit außenstehenden Personen zu verhindern.

Prägend waren aber neben den systembedingten strukturellen und gesellschaftlichen Veränderungen auch Einflüsse aus dem Westen. Westmedien waren auf beiden Seiten der Elbe empfangbar und nahmen, wie auch der ab den 70er Jahren verstärkt mögliche Westbesuch, Einfluss auf das Konsumverhalten der Neuhäuser. Eine weitere Kontaktmöglichkeit, sowohl in den Westen, als auch zu Zwangsumgesiedelten Freunden, Verwandten und ehemaligen Nachbarn, stellte zudem die jeher stark präsente evangelisch-lutherische Kirche dar. Das Mittel der Wahl, um die (verwandtschaftlichen) Beziehungen zu pflegen war, angesichts der auf beiden Elbseiten ungleich verteilten Zahl der Telefonanschlüsse, dabei häufig der Brief oder das Westpaket. Dies trug dazu bei, dass auch über die gesamte Zeit des Bestehens der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) ein gewisses Zusammengehörigkeitsbewusstsein bestehen blieb. Der auf beiden Seiten der Elbe einsetzende demografische Wandel stellte wiederum ein gemeinsames Problem dar und bewirkte ein weiteres Zusammenrücken der Zurückgebliebenen auf beiden Seiten. All dies begünstigte das schnelle Entstehen von Bürgerinitiativen und Strategien zur Eingliederung des Amtes Neuhaus in das Bundesland Niedersachsen nach dem Mauerfall am 9. November 1989.

Amt Neuhaus (NLA ST (Niedersächsisches Landesarchiv Stade) Rep. 280 C Acc. 2016/35 Nr. 6)

Grenzöffnung und doppelte Wiedervereinigung            

Die Veränderungen des Oktobers 1989 und schließlich die Grenzöffnung Anfang November brachten die bestehenden und notgedrungen akzeptierten Gegebenheiten ins Wanken. Wie auch in der übrigen DDR bot die evangelische Kirche Freiräume zu Bildung von Widerstand und unterstützte das Narrativ einer „selbstständigen elbübergreifenden Emanzipation“. Dieses wurde weiter befeuert durch gemeinsame Bestrebungen zur Beseitigung der Elbgrenze, welche sich vor allem in der Wiederaufnahme des seit Jahrzehnten stillgelegten Fährverkehrs noch Ende November 1989 zeigten. Zu dieser Zeit wird auch der Ruf nach einer Angliederung an das Nachbarland Niedersachsen, dem man sich nach wie vor verbunden fühlt, immer lauter. Doch neben Verbundenheit und gelebter Gastfreundschaft auf beiden Seiten blieb auch eine gewisse Entfremdung nicht unbemerkt. Spürbar wurde das zum Beispiel beim unterschiedlichen Konsumverhalten. Während Bundesbürger*innen die offene Grenze nutzten, um günstig einzukaufen und teilweise auch, um billig Land zu erwerben, spürten DDR-Bürger*innen eine gewisse Überforderung anhand der vielen Konsummöglichkeiten des kapitalistischen Westens. Ein weiteres Element der Entfremdung waren die allein einseitigen Erfahrungen des Lebens im Speergebiet, der Zwangsumsiedlung und Enteignung in der DDR. 

Die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 brachte dann noch größere Umwälzungen in die Region östlich der Elbe. Allein die Auflösung der staatlichen LPGs stellte einen großen strukturellen Wandel dar. Die Landwirtschaft prägte zwar weiterhin die regionale Ökonomie, doch forderte das neu eingeführte marktwirtschaftliche System wie überall in den neuen Bundesländern viele ehemals gesicherte Arbeitsplätze. Andererseits profitierte die ostelbische Landwirtschaft gegenüber der auf der anderen Flussseite von einer bereits erfolgten stärkeren Ausrichtung auf industrielle Produktion. Gleichzeitig ermöglichten Wiedervereinigung und Auflösung der LPGs eine Rückübertragung von Land an enteignete Landwirt*innen und die Wiederaufnahme der traditionellen flussübergreifenden Agrarwirtschaft. Das Problem der Arbeitslosigkeit wurde bald zum Problem auf beiden Seiten der Elbe, denn mit der Auflösung der DDR blieb auch der zuvor stete Strom der Grenztourist*innen weg.

Die Elbe wird nach Maueröffnung selbst vom trennenden Fluss wieder zu einem verbindenden Element, wie sie es bis 1945 auch gewesen war. Strukturelle Schwächen gab es auf beiden Seiten der Elbe. Diese Probleme und das der Verschuldung suchte man in der Zusammenlegung der Samtgemeinde Dahlenburg mit der Stadt Bleckede und dem Amt Neuhaus zu lösen. Die erhofften direkten Erleichterungen blieben zwar aus, konnten inzwischen aber durch weitere gemeinsame Maßnahmen kompensiert werden. Die Elbe als verbindendes Element bewies sich beispielsweise in den beidseitigen Bemühungen um die Entstehung einer Erinnerungskultur, die der erlebten Trennung der vergangenen Jahrzehnte gerecht werden sollte. Stärker aber noch in den Bürgerinitiativen, die schon bald nach der Wende erfolgreich eine Umgliederung an das Land Niedersachsen forderten, welches mit seiner Gründung 1946 unter anderem die Nachfolge der ehemaligen preußischen Provinz Hannover angetreten hatte. Diesem wiederholt geäußerten Wunsch folgte ein mehr als dreijähriger Prozess. So mussten u.a. die zukünftige Weiterbeschäftigung von Personen des öffentlichen Dienstes beim Land Niedersachsen, die kommunalen Strukturen, die Infrastruktur und der Umgang mit dem sich links und rechts der Elbe erstreckenden Naturschutzgebiet geregelt werden. Ende 1991 stand dennoch ein erster Entwurf des Staatsvertrages zwischen Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern, aus dessen Erarbeitungsphase die hier gezeigte Karte stammt. Weitere acht Monate später war wiederum eine erste vorläufige Vereinbarung formuliert und im März 1993 konnte der Vertrag unterzeichnet werden. In Kraft trat er Ende Juni 1993. Seitdem ist das Amt Neuhaus Teil Niedersachsens. Bis heute zeichnet sich die Region durch ein starkes bürgerliches Engagement aus, das sich, neben der erwähnten Erinnerungskultur, nicht zuletzt in anhaltenden Forderungen nach einer Elbbrücke bemerkbar macht.

Literatur

  • Homa, Bernhard: „40 Jahre Trennung sind genug“ Die Rückgliederung des Amtes Neuhaus nach Niedersachsen nach 1989, in: Fiedler, Gudrun; Graf, Sabine; Hermann, Michael: 75 Jahre Niedersachsen. Einblicke in seine Geschichte anhand von 75 Dokumenten, Göttingen 2021, S.333-335.
  • Hüls, Werner: Land der Bauern, Kirchen und Kapellen. Amt Neuhaus – von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg, Husum 2002.
  • Mägde, Christoph: Grenzerfahrung. Die deutsch-deutsche Elbgrenze im Amt Neuhaus (1949-1989/90) (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, Band 143), Hannover 2021.

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